
Zeitzeugengespräch
Zeitzeugengespräch
Am vergangenen Donnerstag fand auf Einladung der Fachschaft Geschichte des Oken-Gymnasiums ein Zeitzeugengespräch in der Mensa des Schulzentrums Nordwest statt. Zu Gast war Dr. Sebastian Pflugbeil aus Berlin, der vor ca. 150 Schülern der Jahrgangsstufen 12 und 13 über die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, die Ereignisse des Mauerfalls sowie die Zeit unmittelbar danach referierte und für Fragen zur Verfügung stand.
Pflugbeil ist Physiker, war in der Wendezeit Mitbegründer des Neuen Forums und in der letzten DDR-Regierung vor den Volkskammerwahlen 1990 Minister, also mitten im Geschehen dieser bewegten Zeit vor 20 Jahren.
Zu Beginn stellte Thomas Müller-Teufel vom Oken-Gymnasium durch nüchterne Fakten in eindringlicher Weise das Wesen des Staates DDR als Diktatur und Unrechtsstaat dar. Mit Hilfe von Schülern wurden dann die revolutionären Ereignisse vor dem Mauerfall allen ins Gedächtnis gerufen, um dem Gast danach die Möglichkeit zu bieten, seine Rolle in der Zeit darzustellen.
Pflugbeil erwies sich dabei als faszinierender Erzähler, der leise, aber eindrücklich eine Zeit und eine politische Situation lebendig werden ließ, wie sie einmaliger nicht sein konnte! Er beschrieb zunächst seine Herkunft aus einer Kirchenmusikerfamilie „am Rande der DDR-Gesellschaft“, seinen Werdegang ohne FDJ- oder Parteimitgliedschaft, aber trotzdem mit Abitur, Studium und Universitätskarriere – für ihn war es ein Glück und keineswegs der Regelfall, in einer „Nicht-Eiszeit“ diese Schritte gehen zu können. Anschaulich schilderte er die Alltäglichkeit von Überwachung wie beispielweise durch die Verwanzung der Wohnung und Kontrolle durch Nachbarn, die Stasispitzel waren: „Dinge an die man sich gewöhnt“. Pflugbeil weiß aber auch zu schätzen, dass ihm eine schlimmere Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt erspart blieb, „sonst wäre er vielleicht ein anderer“. Intensiv widmete Pflugbeil sich der Konstituierung des Neuen Forums als Gremium, welches den Dialog mit der DDR-Führung suchte und diese nicht abschaffen, sondern gerechter machen wollte. Verständlich, dass ihn der Mauerfall nicht mit Euphorie erfüllt hat, endete doch damit ein Prozess einmaliger demokratischer Diskussion unter den Verlockungen von „Coca-Cola und Bananen“. Es habe eine Kluft bestanden zwischen denjenigen, die einfach nur weg wollten – auch aus eher schlichten Beweggründen – und denjenigen, die versuchten eine Veränderung des Systems der DDR herbeizuführen. Für Pflugbeil stand eine endgültige Ausreise nie zur Diskussion, auch nicht kurz vor dem Mauerfall beim Verwandtenbesuch im Westen. Überhaupt betrachtet er das Handeln der damals politisch Verantwortlichen in Ost und West sehr kritisch, gerade wenn es um die Wiedervereinigung ging, hat sie doch nach Pflugbeils Ansicht viele Ansätze von wahrer demokratischer Gerechtigkeit unter den Versprechungen von Konsum und wirtschaftlicher Prosperität begraben. Er vermisst die hohe Diskussionskultur der Wendezeit und der Runden Tische, geht sogar soweit die Vertuschung bzw. Verniedlichung von aktuellen Störfällen in deutschen Atomkraftwerken mit der gezielten Desinformationspolitik der DDR-Führung zu vergleichen – eigentlich kontroverser Gesprächsstoff für viele Stunden!
Den anwesenden Schülern konnte er auf seine authentische, aber keineswegs emotionslose Art nur raten „sich nicht für dumm verkaufen zu lassen“ und die Tagespolitik kritisch und mit gesundem Menschenverstand zu hinterfragen.