
Gefangen im Zeitstrudel
Wieder einmal begeisterte das Chemie-Theater des Oken-Gymnasiums. Die hochmotivierte Gruppe um Chemielehrer Marko Käding, der dieses Jahr erstmals von seiner Kollegin Maya Scholtyssek unterstützt wurde, glänzte mit einem selbst geschriebenen Stück voller Humor und mit vielen Aha-Effekten.
Dieses Jahr setzten die Schülerinnen und Schüler (Klasse 7 bis Jahrgangsstufe 2) gar die Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft. Statt im vertrauten Chemiesaal befanden sich die Zuschauer plötzlich in einem Escape-Room – kein Entrinnen möglich, wie die mysteriöse Moderatorin (Eva Szombati) im Kerzenschein ankündigte. Es sei denn, das Publikum schaffte es, verschiedene Rätsel zu lösen. Dass es dazu auch eine gehörige Portion Mut brauchte, merkten die Zuschauer sofort. Denn es galt, einen Knopf zu drücken, der mit einem unübersehbaren Warnschild versehen war. Erst dann konnte die Reise beginnen, auf der das Publikum den selbstsicheren und am liebsten „Mars“ futternden „Urknall“ (Jonas Groß / Jasmin Kehret) kennenlernte. Oder den verzweifelten Pharao (Selim Arican), der vergeblich nach dem verschollenen Rezept seiner Lieblingsfrau forschte.
Bisher hatte er zur Freude der Zuschauer nur dampfende Flüssigkeiten zustande gebracht. Während er sich unter seinem Solarium auf die faule Haut legte, musste das Publikum helfen – nicht zum letzten Mal an diesem kurzweiligen Abend. Auch Demokrit (Gian Sander) wurde geholfen, der nach einem Namen für die „unteilbaren Teilchen“ suchte und kein gutes Wort an dem quacksalbernden, „semi-kompetenten“ Archimedes (Grete Strosack) ließ. Dieser benötigte nach seinem Vollbad Hilfe beim Rechnen – „Okipedia“, das Nachschlagewerk der alten Griechen, war glücklicherweise genauso schnell verfügbar wie Hilfe aus dem Publikum. Dass Chemiker, die gleichzeitig mächtig die Werbetrommel für brandneue Produkte aller Farben und Konsistenzen rühren (Eva Bredow), zur Zubereitung einer belebenden Tasse Kaffee keine Kaffeemaschine benötigen, erfuhr der Zuschauer während der Aufführung.
Auch lernte er, dass es möglich ist, über Wasser zu gehen – aber nicht für jeden, wie ein verblüffter Jünger (Simon Kronenbitter) feststellen musste. Wer an ein Wunder glaubte, wurde flugs eines Besseren belehrt: „Das war kein Wunder, das war Chemie!“ Mit Chemie war auch der Schluckauf der „Zeit“ (Kevin Janzen) schnell, aber laut kuriert, sodass es sofort weitergehen konnte auf der Reise durch Raum und Zeit. War ein Rätsel korrekt gelöst, erhielten die Zuschauer ein Reisesouvenir, das an anderen Stationen nützlich war. So verhalfen die feurigen Farben des Leonardo da Vinci (Lea Groß) zu einem imposanten Feuer, das den Glücksdrachen im China des Jahres 1103 milde stimmte und dessen großer Feuerball die Weiterreise garantierte. Echte Diamanten gehörten zwar leider nicht zu den Souvenirs für die Zuschauer, waren aber Bestandteil eines ebenso feurigen Experiments im Paris des Jahres 1772, das mutmaßlich die Ehe des Chemikers Antoine Laurent de Lavoisier (Robert Senin) in eine große Krise gestürzt haben muss. Ein kurzer Ausflug in die Physik brachte tierische Verstärkung: Katzen (Eva Bredow, Anastasia Janzen) halfen Erwin Schrödinger (Robert Senin) bei seinem „Tot oder lebendig?“ – Experiment. Wieder zurück auf dem – diesen Seitenhieb auf die Nachbarwissenschaft konnten sich die Chemiker nicht verkneifen – „höheren Level“ der Chemie, wurden weitere Rätsel gelöst.
Das Geheimnis der Radierstifte, blaues Blut, Röntgenstrahlen und der Zusammenhang zwischen Chemie und Fußball brachten die Zuschauer schließlich weit über das angestrebte Ziel, die Gegenwart, hinaus. Dabei lernten sie Sherlock Holmes (Gian Sander) und Doktor Watson (Eva Szombati), Marie Curie (Grete Strosack) und die Fußball spielenden Brüder Niels und Harald Bohr (Jasmin Kehret und Jonas Groß) kennen. Statt ins Jahr 2019 wurde das Publikum mit einem beeindruckenden Experiment jedoch direkt in die Zukunft katapultiert. 2045 wird im Chemieunterricht zwar noch an die Tafel geschrieben, Zeitung gibt es aber nur noch digital, und die „Apps“ der früheren Zeiten, als „wischen“ noch „umblättern“ hieß, – Schulbücher – kennt nur noch der inzwischen pensionierte Kollege. Der Vorteil dieser Apps: unbegrenzte Akku-Laufzeit. Darin fand die rosahaarige Chemikerin mit der schicken Schutzbrille (Chemielehrerin Maya Scholtyssek) die beinahe antike Darstellung eines Methanmoleküls, das zu ihrer Zeit schon längst nicht mehr existierte. Glücklicherweise befand sich ein solches Molekül jedoch im Schrank der Reise-Souvenirs. Dessen Brennkraft schaffte dann das Wunder – oder war es Chemie? –, alle wohlbehalten wieder in den Chemiesaal des Oken-Gymnasiums zurückzubringen, in eine Zeit, in der die Haare nicht so bunt sind und die Kleidung weniger glitzert. „Ich bin zurück im Okenland!“, erleichtert stimmte das Publikum in das Abschlusslied ein, das einen rundum gelungenen Theaterabend beendete. Beendete? Nein!
Verschmitzt und mit einer gehörigen Portion Selbstironie wurde den Zuschauern eine Reihe von „Outtakes“ präsentiert, die während der Probetage gefilmt worden waren und die bestätigen, mit wie viel Leidenschaft und Spaß dieses Theaterstück in ungezählten Stunden intensiver Probearbeit auf die Beine gestellt wurde. Die chemiebegeisterten Schülerinnen und Schüler haben es erneut geschafft, engagiertes Schauspiel und außergewöhnliche Wandlungsfähigkeit mit beeindruckenden chemischen Experimenten zu verknüpfen. Chapeau!
I. Walter
Fotos: E. Muser, R. Holzenthaler, I. Walter
Mitwirkende:
Lea Groß, Anastasia Janzen, Jasmin Kehret, Eva Szombati, Eva Bredow, Jonas Groß, Kevin Janzen, Simon Kronenbitter, Gian Sander, Robert Senin, Grete Strosack, Selim Arican
Technik und Licht:
Etienne Muser, Tom Manshardt, Emre Arican, Jonas Groß, Robert Senin, Kevin Janzen, Raffael Holzenthaler, Luca Trappe
Regie:
Maya Scholtyssek, Marko Käding