
Bericht einer Flucht
Mit 4 Jahren den Eisernen Vorhang überwunden
Vesna Marcovici-Decker berichtete am Oken-Gymnasium von ihrer dramatischen Flucht aus Rumänien
Etwas ganz Besonderes erlebte die 8c des Oken-Gymnasiums, die sich gerade mit dem Thema Einwanderung und Flucht beschäftigt. Vesna Marcovici-Decker, Mutter einer Schülerin, schilderte eindrücklich die Umstände ihrer abenteuerlichen Flucht aus Rumänien. Damals war sie vier Jahre alt.
Vesna Marcovici-Decker floh mit ihrem Bruder und ihrer Mutter im Jahre 1970 aus dem kommunistischen Rumänien und entrann so einer menschenverachtenden Diktatur, die ihr Vater schon zuvor auf eigene Faust verlassen hatte. Freilich wollte die Familie wieder vereint sein und in Deutschland ein neues Leben beginnen. Aber wie konnte einer Mutter mit ihren zwei Kindern, ohne aufzufallen, die Flucht aus einem Polizei- und Überwachungsstaat, wie es Rumänien nun einmal war, gelingen? Immerhin galt es doch zuallererst die rumänische Staatszugehörigkeit zu kaschieren; das hieß, sich serbische Pässe beschaffen, wenn die Flucht über Jugoslawien und Österreich nach Deutschland gelingen sollte. Es schien unmöglich und letztlich kamen viele Dinge zusammen, die diese Flucht aus einem hermetisch abgeriegelten Satellitenstaat des damaligen Ostblock-Imperiums erfolgreich gestalteten. Ein in die Flucht eingeweihter Funktionär in entscheidender Position zur richtigen Zeit am richtigen Ort, der die nicht vorhandenen, aber absolut notwendigen Stempel in den serbischen Pässen auf die Vergesslichkeit und mangelnde Genauigkeit eines Beamten bei der Einreisekontrolle schob. Ein fortwährend serbisch brabbelnder und singender elfjähriger Bruder, der während der unzähligen Passkontrollen durch die rumänische Polizei immer wieder serbische Kinderlieder mit seiner kleinen Schwester Vesna sang und sie damit erfolgreich davon abhielt, ihre Muttersprache, die ihre rumänische Identität preisgegeben hätte, zu sprechen. Vor allem: Eine nervenstarke Mutter, die angesichts einer drohenden lebenslangen Gefängnisstrafe und der dauerhaften Trennung von ihren Kindern, wenn sie aufgeflogen worden wären, ihre Zuversicht nicht verlor und ihre Ängste im Griff hatte. Schließlich die Hilfe einer Slowenin auf eigentlich schon sicherem westlichen Boden, die eine völlig erschöpfte und orientierungslose Mutter gerade noch daran hinderte, aus Versehen in den falschen Zug zu steigen. Dieser hätte sie beinahe wieder zurück in jenen Unrechtsstaat gebracht, in welchem die Partei und linientreues Verhalten alles, das Individuum jedoch nichts zählte und niemand frei seine Meinung äußern, geschweige denn sich kritisch gegenüber dem Staat äußern durfte.
Die Schülerinnen und Schüler der 8c hingen Frau Decker an den Lippen: „Das ist ja völlig krass, wie das Leben damals im kommunistischen Rumänien war!“, bemerkte Sade Ogunmuyiwa.
Dass sich die Familie letztlich in Steinbach wiederbegegnete, hing nochmals von einer Reihe von Zufälligkeiten ab. „Welche Gefühle haben Sie, Frau Marcovici-Decker, wenn Sie an Ihre Heimat denken?“, wollte Hannah Bohnsack wissen. „Mir fällt da nur Trübsinn ein und Dunkelheit“, antwortete sie.
Die Familie jedenfalls meisterte ihr Leben in dem völlig unbekannten Deutschland bravourös. Das lag daran, dass sich alle ins Zeug legten. Vater und Mutter taten alles, um die deutsche Sprache so schnell wie möglich zu erlernen. Der Vater konnte zudem nicht rasch genug alle notwendigen Papiere und Diplome ergattern, die es ihm erlaubten, wieder als Tierarzt zu arbeiten. Die Mutter half in einem benachbarten Gasthaus und war dort Mädchen für alles.
Heute ist von Vesnas rumänischen Wurzeln auf den ersten Blick nicht mehr viel zu bemerken.
Heimatliche Gefühle verbindet sie nicht nur mit dem Land Rumänien.
Seit frühester Kindheit in Deutschland ist sie und fühlt sie sich als deutsche Staatsbürgerin mit rumänisch-serbischen Wurzeln und ist durch die eigene Familie und ihren Beruf fest in der deutschen Gesellschaft verankert.
Frank-Jochen Saam